Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt. 2 Timotheus 3,16f
Der zweite Timotheusbrief gehört zu den sogenannten „Pastoral- oder Hirtenbriefen“. Paulus schreibt an seinen „rechten Sohn im Glauben“ (1 Tim 1,2). Diesem hatte Paulus die Gemeindeleitung in Ephesus übertragen. Dort aber war es zu Problemen gekommen. Wie so oft bei neu gegründeten christlichen Gemeinden, in denen sich noch keine geistliche Tradition herausgebildet hatte, waren Meinungsverschiedenheiten entstanden. Hauptsächlich zwei damals weit verbreitete Richtungen prägten das Leben der damaligen Gesellschaft: Esoterik und neuplatonische griechische Philosophie. Während die Philosophen sich um die rechte Interpretation der Fakten stritten, glaubten die Esoteriker an allerlei mehr oder weniger glaubhafte Einbildungen einzelner Menschen, aus denen sie eine Erkenntnislehre (grch. Gnosis) formulierten. Diese (und andere) Meinungsverschiedenheiten wurden nun auch in das Leben der christlichen Gemeinden hineingetragen – so wie in unseren Gemeinden heute auch über gesellschaftliche Fragestellungen diskutiert und nach eindeutigen kirchlichen Stellungnahmen dazu gesucht wird.
Der eigentliche Hintergrund dieses Problems lag in der Natur des erst wenige Jahre zuvor entstandenen christlichen Glaubens: Jesus aus Nazareth hatte Schüler berufen und ausgebildet, damit sie den Glauben der Israeliten, welche bis dahin als erstes und einziges Volk den einen unsichtbaren Schöpfers des Universums und Befreier und Beschützer seines Volkes anbeteten, auch zu den Heiden (den nichtjüdischen Völkern) hinaustragen sollten (Matth 28,19f).
Der Glaube, der sich in einem Volk (Israel) über tausend Jahre entfaltet und eine eigene Kultur entwickelt hatte, war nun durch die Apostel auch außerhalb Israels verbreitet worden, traf aber dort auf eine gänzlich anders geprägte Kultur. (Ähnliche Probleme hatten im letzten Jahrhundert manche Bibelübersetzer zu lösen, als sie beispielsweise Eskimos oder Urwaldindianern Jesu Gleichnisse von einem Ackerfeld oder einem Weinstock übersetzen sollten).
In der durch griechisches Denken geprägten antiken Welt traf nun auf solcherart geprägte Hörer das Evangelium von Jesus Christus. Es gehört zu den herausragendsten denkerischen Leistungen des Paulus, den Christusglauben in diese völlig anders geprägte Kultur zu pflanzen. Eine seiner Grunderkenntnisse dabei ist, dass nicht Esoterik und nicht Philosophie das Leben der christlichen Gemeinde bestimmen sollen, sondern die „Schrift“. Gemeint hat er damit alle 39 heiligen Schriften des ersten Testaments, welche die Christenheit ohne Ausnahme von den Israeliten übernommen und – später durch die 27 Schriften des Neuen Testaments ergänzt – zu ihrer heiligen Schrift gemacht hatten.
Sieghard Löser